Für den Bildungsbereich sind drei unterschiedliche Aspekte der Digitalisierung relevant: Digitale Werkzeuge als Lehr- und Lernmittel, Digitalisierung als Fachgebiet sowie die gesellschaftliche Rolle der Schulen.
Von Matthias Stürmer
Der Artikel basiert auf dem Referat von Matthias Stürmer am 13. November 2021 am nationalen VPOD-Bildungsforum.
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Schon vor der Corona-Pandemie prägte die digitale Transformation unsere Gesellschaft. Nun verstärkten Lockdowns und andere Massnahmen diesen Trend noch durch Fernunterricht, Homeoffice und Onlineshopping. Das Ergebnis zeigt sich unter anderem am massiv gestiegenen Börsenwert der grossen Technologiefirmen Apple, Microsoft, Google, Amazon und Facebook, die in diesen zwei Jahren ihre Marktkapitalisierung nahezu verdoppeln konnten. Im Januar 2020 hatten diese fünf Big-Tech-Firmen noch einen Marktwert von 5200 Milliarden US-Dollars, jetzt Anfang 2022 sind es bereits rund 8800 Milliarden, Ende 2021 waren es zeitweise gar über 9500 Milliarden.
Was heisst das nun konkret für den Bildungsbereich? Klar ist, dass die Digitalisierung eine für die Schulen revolutionäre Entwicklung darstellt, die viele der bisher bekannten und erprobten Lehr- und Lernformen disruptiv in Frage stellt. Gerade in Zeiten der digitalen Transformation ist es jedoch nützlich, die unterschiedlichen Entwicklungen differenziert zu betrachten, um ihre Auswirkungen zu verstehen und um zu entscheiden, in welche Richtung es in den jeweiligen Gebieten gehen soll. Deshalb ist es sinnvoll, die verschiedenartigen Veränderungen zu entflechten, um so eine klarere Sicht auf die positiven und negativen Seiten des technologischen Wandels zu erhalten.
Inspiriert von der Digitalstrategie der Universität Genf lässt sich die digitale Transformation in drei Wirkungsfelder unterscheiden: als Werkzeug (Tool), als Fachgebiet (Object) und als eine Herausforderung für die Gesellschaft (Subject). Übersetzt auf den Schulbereich betrifft das «Werkzeug» die schulinterne Informatikinfrastruktur inklusive virtuelle Lernumgebungen und didaktische Ansätze, das «Fachgebiet» stellt das inhaltliche Verständnis der Technologien und ihrer Auswirkungen dar und die «Herausforderungen für die Gesellschaft» zeigen sich in der Schlüsselrolle der Schulen in der Digitalisierung. Tool – Digitalisierung als Werkzeug Betrachten wir zunächst die Digitalisierung als Werkzeug, also als Hilfsmittel für den Schulunterricht. Dieser Aspekt umfasst sowohl die eingesetzte Hardware als auch die zahlreichen Software-Tools und deren Anwendungsmöglichkeiten. Bereits bei diesen vermeintlich noch relativ überblickbaren Fragestellungen zeigen sich grosse Unterschiede im heutigen Schulalltag. Einblick in aktuelle Hardwarebeschaffungen gewährt beispielsweise IntelliProcure, ein Informationsportal über die öffentliche Beschaffung in der Schweiz, das seine Daten aus der Beschaffungsplattform simap.ch bezieht. Mit einer einfachen Abfrage ist ersichtlich, dass Schweizer Schulen aktuell völlig unkoordiniert für Zigmillionen Franken unterschiedlichste Hardwareausstattungen einkaufen: Während die einen Bildungseinrichtungen ganz auf Laptops und Desktop-Computer setzen, beschaffen andere Schulen bewusst Tablets wie beispielsweise iPads. Weitere Schulen wenden beispielsweise Lernsticks an, bei dem alle einen USB-Stick mit Linux und Bildungsanwendungen erhalten und so auf schuleigenen Computern arbeiten können. Es scheint sich somit kein klarer Trend bezüglich der Endgeräteausstattung an den Schulen gebildet zu haben. Leider bietet diesbezüglich auch niemand unabhängige Untersuchungen an, von Empfehlungen ganz zu schweigen. Selbst Educa, die von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) finanzierte «Fachagentur für den digitalen Bildungsraum», äussert sich nicht zu der Frage der Hardwarewahl.
Nicht minder vielseitig sind die unterschiedlichen Softwareprogramme, die im Schulunterricht angewendet werden. ELearning ist ja eigentlich kein neues Thema, aber das Ausmass der Angebote hat in den letzten Jahren nochmals massiv zugenommen. So hat sich in den letzten Jahren unter dem Begriff «Educational Technology», «EduTech» oder «EdTech» eine aufstrebende Branche von informatiknahen Startups gebildet, die innovative Digitalanwendungen im Bildungsbereich anbieten. Ob und wie weit dabei neben all der Technik auch pädagogische Erkenntnisse und Konzepte einfliessen, ist umstritten und wird wohl nicht zu Unrecht von vielen Lehrpersonen kritisiert. Nebst allen fragwürdigen Auswirkungen zeigt die Vielfalt der Anwendungen, dass Digitalisierung ein grosses, kreatives Potenzial beinhaltet. Beispielsweise schaffen neuste Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz (KI) neue Möglichkeiten der individuellen Lernbegleitung (Lernbots, virtuelle Coaches), was gerade für schwächere Schülerinnen und Schüler eine grosse Hilfe sein und so die Chancengleichheit fördern kann.
Neben all den positiven Seiten zeigt sich auch hier wiederum die Marktmacht der amerikanischen Technologiefirmen. Microsoft und Google sind sehr präsent im Bildungssektor, da sie geschickt versuchen, die jungen Menschen schon früh an deren Produkte und Marken zu gewöhnen. So bieten die Informatikkonzerne den Schulen und Lehrpersonen bequeme und günstige Möglichkeiten, ihre Daten auf die jeweiligen Plattformen abzulegen und die entsprechenden Anwendungen zu verwenden. Durch den Lock-in-Effekt dieser Tools entsteht eine stetig wachsende Herstellerabhängigkeit, welche die Plattformwahl bis in die politischen Gremien beeinflusst.
Alternativen zu finden ist schwierig, da Bekanntheit, Benutzerfreundlichkeit, Performance und Preise der grossen Anbieter fast unschlagbar sind. Versuche, aus dem Mainstream auszubrechen, sind (zumindest medial) bisher gescheitert, wie das Beispiel Base4kids 2 der Stadtberner Schulen zeigte. Anstrengungen werden dennoch unternommen, beispielsweise durch den Open-Source-Förderverein CH Open, der 2019 den Open-Education-Server lanciert hat. Die auf Nextcloud und LibreOffice/Collabora Online basierende Plattform soll Lehrpersonen einen einfachen Einstieg in die Nutzung von Open-Source-Lösungen ermöglichen. Mit rund 300 Schülerinnen und Schülern sowie rund 100 Lehrpersonen verwenden die Schulen in Saanen als erste Bildungseinrichtung diesen Open-Source-basierten Server flächendeckend. Auch wenn der Onlineservice grundsätzlich zuverlässig funktioniert, braucht es für den längerfristigen Betrieb und für die Weiterentwicklung eine grössere Investition von rund 400’000 Franken, wie eine Studie der Universität Bern im Auftrag der Mercator-Stiftung kürzlich aufzeigte.
Object – Digitalisierung als Fachgebiet
Der Perspektivenwechsel von der Digitalisierung als Werkzeug zum Aspekt des Fachgebiets ist fliessend, was sich am Beispiel der viel diskutierten «Digital Skills» zeigt. Diese Fähigkeiten werden einerseits benötigt, um die oben beschriebenen Werkzeuge bedienen zu können. Andererseits umfassen diese Kompetenzen auch Fachwissen rund um die Informatik und Digitalisierung.
So wird im Modul «Medien und Informatik » des Lehrplans 21 explizit verlangt, dass die Schülerinnen und Schüler selbständig Programme anwenden und auch selbst solche entwickeln können. Das ist sehr erfreulich, werden doch die Programmierkenntnisse so als Fähigkeiten erkannt, die für das Verständnis und die Mitgestaltung der digitalen Welt entscheidend sind. Auch aus wirtschaftlicher Sicht ergibt dies Sinn, denn Programmierskills sind aktuell und in Zukunft sehr gefragt und sichern deshalb auch die langfristige Arbeitsmarktfähigkeit der Jungen. So werden heute in fast jedem Beruf und Studium «Digital Skills» benötigt – sei es um die dauernd neuen Programme gezielt und effizient anzuwenden, um Daten zu verarbeiten und zu verstehen oder um wiederkehrende Abläufe rasch mit einem Computerprogramm zu automatisieren.
Neben Vermittlung der technischen Fähigkeiten sollten die Schulen auch die Auswirkungen der Digitalisierung thematisieren. Neben den viel diskutierten Chancen und Risiken von Social Media sollten auch die ökologischen und sozialen Aspekte der Informatiknutzung behandelt werden, denn die Digitalisierung hat bekanntermassen sowohl positive wie auch negative Konsequenzen auf die Nachhaltigkeit. Ausserdem werfen neue Technologieanwendungen oftmals rechtliche Fragen auf. Insbesondere Urheberrecht und Datenschutz spielen in der digitalen Welt eine entscheidende Rolle, wie die aktuellen Revisionen der entsprechenden beiden Gesetze aufzeigen, die primär wegen der digitalen Transformation angepasst werden mussten. Immer wichtiger werden des Weiteren die ethisch sinnvollen sowie die fragwürdigen Einsatzgebiete von KI. Wie oben erwähnt, können intelligente Lerntools förderlich für die Wissensvermittlung sein. Gleichzeitig erlauben KI-Methoden wie beispielsweise Gesichtserkennung und Deepfake auch moralisch äusserst problematische Anwendungen.
Insgesamt ist die Betrachtung der Digitalisierung ein spannendes Thema für die Schulen, sie ist sowohl Herausforderung als auch Chance. Einerseits müssen sich die Lehrpersonen weiterbilden und neue Lerninhalte erarbeiten, was entsprechend aufwändig und für das Schulbudget teuer ist. Andererseits bietet dieses neue Fachgebiet auch die Möglichkeit, als öffentliche Schule wichtig Grundwerte zu vermitteln und zukunftsweisende Fähigkeiten zu unterrichten, was die Rolle der Schule in der Gesellschaft stärkt.
Subject – Gesellschaftliche Rolle der Schulen
Beim dritten Wirkungsfeld handelt es sich um die gesellschaftliche Rolle der Schulen, diese leitet sich aus einer übergeordneten Perspektive ab. Denn der Bildungsbereich nutzt nicht nur die Tools der Digitalisierung und vermittelt nicht bloss die fachlichen Inhalte rund um Informatikthemen, sondern hat auch eine aktive, normative Funktion innerhalb der Gesellschaft inne. So gestaltet der Bildungssektor den Umgang mit Wissen, bestimmt, wie dieses geschaffen wird und ob dieses Wissen geteilt oder geheim gehalten wird. Schulen haben damit auch eine Vorbildfunktion und prägen die kommenden Generationen, wie sie mit dem digitalen Wissen umgehen werden. In diesem Zusammenhang beschreibt das Konzept der digitalen Nachhaltigkeit, wie das Potenzial der Digitalisierung noch stärker im Sinne der Gesellschaft genutzt werden kann und negative Seiten reduziert werden können. Ausgehend von der Problematik, dass der digitale Raum immer mehr privatisiert und, wie oben erläutert, von grossen IT-Konzernen kontrolliert wird, will die digitale Nachhaltigkeit den langfristigen, freien Zugang zu digitalem Wissen für heute und morgen sicherstellen.
So ermöglicht beispielsweise die Wikimedia-Foundation das kollektive Erarbeiten von Inhalten, indem sie unter anderem Wikipedia betreibt und laufend weiterentwickelt. Dabei können Schulen diese internationale, ehrenamtlich tätige Wissensvernetzung unterstützen, indem sie nicht nur deren Beiträge für den Unterricht nutzen, sondern die Schülerinnen und Schüler auch anlernen, selber neue Artikel zu verfassen und bestehende zu ergänzen oder zu korrigieren. Dies schärft das Verständnis der Jungen, wie diese globale Bewegung funktioniert und zeigt deren Chancen und Risiken hautnah.
Das Prinzip der digitalen Nachhaltigkeit kann auch im Geografieunterricht angewendet werden, wenn mit der weltweiten Open-Geodaten-Plattform OpenStreetMap gearbeitet wird. So haben engagierte Lehrpersonen die Website OpenSchoolMaps.ch aufgebaut, auf der eine Vielzahl von Lehrmaterialien veröffentlicht sind, mit denen die Schülerinnen und Schüler ihren Lebensraum erkunden und so besser verstehen können.
Diese Beispiele zeigen, wie Schulen bewusst den nichtkommerzialisierten Teil des Internets im Unterricht integrieren und so einen Beitrag zur digitalen Nachhaltigkeit leisten können. Damit ermöglichen sie einerseits den Schülerinnen und Schülern, wie im Handarbeiten und Werken zu lernen, selbst schöpferisch im digitalen Raum zu werden. Dies schärft das Bewusstsein für mehr digitale Souveränität und befähigt sie gleichzeitig, den Cyberspace von morgen mitzugestalten. Andererseits trägt die Erarbeitung, Freigabe und Nutzung von freien Unterrichtsmaterialien (Open Educational Resources) bei den Lehrpersonen bei, das zivilgesellschaftliche Kreativpotenzial auszuschöpfen und gleichzeitig künftige Generationen für gesellschaftlich sinnvolle Aspekte der digitalen Transformation zu sensibilisieren.
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Matthias Stürmer ist Professor an der Berner Fachhochschule und dort Leiter des Instituts Public Sector Transformation sowie Dozent und Leiter der Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit am Institut für Informatik der Universität Bern. Er hat an der ETH Zürich zu Open Source Communities doktoriert und ist Präsident des Vereins CH Open.